Der Weg in den Slum führt vorbei an dem angeblich teuersten Privathaus der Welt. Eine Milliarde Dollar soll der Turm gekostet haben.
Der Taxifahrer weist stolz darauf hin: "Ja, ja… 600 Menschen arbeiten dort, um den reichsten Mann Indiens, Mukesh Ambani und seine vierköpfige Familie zu versorgen."
Wenige Meter weiter spielen Kinder am Straßenrand. Nackt, schmutzig und ohne Schuhe. An einem Gatter schläft jemand in einer Hängematte. Unter einem Haufen Plastik, Kartons und Müll bewegt sich etwas - auch hier lebt ein Mensch. Das ist Mumbai. Die Stadt der extremen Gegensätze, die Stadt, die so laut ist, dass man es kaum aushalten kann.
Unser Ziel ist der Mahim-Bahnhof. Im Herzen der Stadt. Überall Müll, überall Gestank, überall Menschen… Ratten flitzen über die Berge von Plastiktüten, Kanistern und Dreck. Die Bahnhofsbrücke ist der Eingang zum Elendsviertel Dharavi. Wir treffen Oves und Furkan. Die beiden Studenten arbeiten als Touristenführer.
"Wir sind im Zentrum von Mumbai, in Dharavi", erklärt der 27-jährige Wirtschaftsstudent. Es sei das Herz von Mumbai. Er möchte uns zeigen, wie die Menschen hier leben und arbeiten. Und tatsächlich: Von Weitem sehen die Wellblechdächer und zusammengeschusterten Hütten aus wie eine einzige, große Müllkippe. Doch wer sich rein traut, erkennt Behausungen, Geschäfte, Restaurants, Gebetshäuser und sogar Schulen.
Shuraf hat einen Internet-Shop. Rund sechs Quadrameter ist sein Laden groß. Im Schaltkasten ein einziger Kabelsalat – doch es scheint zu funktionieren. Hier im Slum hat jeder Internet, hier hat jeder ein Smartphone.
Gleich gegenüber ist ein kleines Restaurant. Nicht auf den ersten Blick als solches zu erkennen – aber doch, hier wird gekocht und gegessen. Dazwischen laufen Hühner und Ziegen herum, Staub, Ruß, Schmutz und Fett haben alles mit einer schwarz-grauen Patina überzogen. Eine schmale Holzleiter führt auf die erste Etage und auch auf die zweite.
Wieviele Menschen in diesem Slum genau leben, das weiß niemand so genau. Circa eine Million sollen es sein – auf einer Fläche von rund 2,5 Quadratkilometern. Damit wäre Dharavi der Ort mit der größten Bevölkerungsdichte weltweit. Wer denkt, hier regiere die Gewalt, täuscht sich.
Mumbai sei eine der sichersten Städte der Welt, erklärt Oves. Auch das ist kaum zu glauben – vor allem nicht, wenn man die Straße überqueren möchte. Denn in punkto Verkehr ist diese Stadt lebensgefährlich. Niemals stehen bleiben, sonst ist es vorbei...
Schulkinder in Uniformen kommen uns entgegen. Gleich um die Ecke reparieren Arbeiter auf nackten Füßen einen Rohrbruch. Schließlich haben die Slumbewohner zwei Mal am Tag Zugriff auf fließendes Wasser. Das brauchen insbesondere die vielen Handwerker im Slum. Nähereien, Töpfereien und vor allem Gerbereien gibt es hier. Chemikaliendunst liegt beißend in der Luft – Dharavi ist bekannt für seine Lederwaren: Für seine Handtaschen, Jacken und Geldbörsen.
Die Menschen wollten sich selbst verwirklichen, erklärt Ibram. Deshalb arbeiten sie hart. 18 oder 20 Stunden am Tag. Ibram führt den Lederwarenladen, den sein Vater vor 20 Jahren gegründet hat. In seinem Geschäft liegt Marmor auf dem Boden und es ist klimatisiert. Auf seinen Handtschaen hat er den Slum-Namen zur Marke gemacht: Dharavi wurde als Label ins Leder gestanzt.
Dharavi ist Ibrams Zuhause. Ein gutes Zuhause. So wie auch für Furkan. Er liebe es, hier zu leben. Es sei im Zentrum der Stadt, hier seien seine Freunde und Familie. Es sei kein Luxus – aber alles, was man brauche, sei vorhanden.
Ständig ist Dharavi vom Abriss bedroht. Immobilienmakler versuchen alles, um das Gelände als teuren Baugrund verkaufen zu können.
Langsam wird es dunkel in den engen Gassen, die vielen bunten Lichterketten leuchten, der Schmutz verschwindet in der Dämmerung und es ist tatsächlich so, dass an diesem so vollen und lauten Fleck Erde Ruhe einkehrt.
Simonne Doepgen