Ein junger Mann mit drei Pekinesen an der Leine und einer Sonnenbrille tritt aus Drehtür hinaus. Eine magersüchtige Blondine auf Bleistiftabsätzen geht auf der anderen Seite hinein, an ihrem Arm baumeln Papiertüten bekannter Modemarken. An der Bar des Pariser Luxushotels «Le Meurice» öffnet ein Kellner durch behutsames Drehen fast lautlos eine Champagnerflasche. Ein arabischer Geschäftsmann spricht schnell und leise in sein Mobiltelefon. Der Espresso kostet acht Euro und wird mit zwei feinen Schokotäfelchen serviert.
Dort, wo heute eine französische und eine europäische Flagge an der Hotelfassade hängen, flatterten im Sommer 1940 riesige Hakenkreuzflaggen. «Hier war der Sitz des Stadtkommandanten von Paris», antwortet die junge Dame an der Rezeption höflich auf eine Nachfrage. «Die deutschen Soldaten haben vor allem die Zimmer mit Blick auf den Park Jardin des Tuileries belegt, aber der Hotelbetrieb ging auch während der deutschen Besatzungszeit weiter», erzählt sie. Heute gebe es allerdings nur sehr selten Gäste, die sich nach dieser Epoche erkundigten.
Paris war entvölkert
Die Besatzung begann am 14. Juni morgens um halb sechs, als die ersten deutschen Soldaten Paris am Stadttor Porte de la Villette erreichten. Die Deutschen zogen in eine verlassene Stadt ein, etwa 700.000 Pariser waren geflohen, teils unter schlimmen Umständen in überladenen Autos oder zu Fuß.
«Sie hofften auf ein Wunder, ein Auto, einen Lastwagen, irgendein Gefährt, das sie mitnehmen könnte. Aber nichts kam. Dann gingen sie los, aus den Toren von Paris hinaus, zogen ihr Gepäck durch den Staub, liefen weiter, durch die Vorstädte, dann durchs freie Feld und dachten dabei "Ich kann's nicht glauben".» Kaum einer hat den Exodus so eindringlich beschrieben wie die jüdische Schriftstellerin Irène Némirovsky, die 1942 deportiert und in Auschwitz ermordet wurde. Ihr erst 2004 veröffentlichter Roman «Suite française» elektrisierte viele Franzosen, die sich bislang nur wenig mit der Niederlage von 1940 beschäftigt hatten. Némirovsky ist die Erste, die posthum den Renaudot-Literaturpreis verliehen bekam.
«Die Deutschen waren selbst überrascht von ihrem Erfolg. Es herrschte eine gewisse Ratlosigkeit, was sie mit der besetzten Zone machen sollten», erklärt Stefan Martens, Vizedirektor des Deutschen Historischen Instituts in Paris. «Sie haben zunächst zahlreiche Hotels besetzt, da die französischen Ministerien ja belegt waren», erklärt er. «Dort waren sie versorgt und hatten Telefon.» Neben dem «Meurice» besetzten die Deutschen unter anderem das «Majestic» in der Avenue Kléber, wo der Militärbefehlshaber sich einrichtete, und das «Lutetia», das zum Sitz der Abwehr und Gegenspionage wurde.
Heimlicher Besuch
Zehn Tage nach dem Einmarsch kam Hitler nach Paris. Nicht als Triumphator, sondern heimlich, an einem frühen Sonntagmorgen. Es mag Angst vor einem Attentat gewesen sein, oder auch der Wunsch, die Stadt, die ihn faszinierte, fast menschenleer zu sehen. Er ließ sich die Oper zeigen, deren Bauplan er zuvor studiert hatte. Anschließend fuhr er die Champs-Élysées hinauf und zum Trocadéro-Platz. Ein eigener Fotograf und ein Kameramann hielten Hitler vor dem Hintergrund des Eiffelturms fest. Paris war die einzige europäische Hauptstadt, die er je mit einem regelrechten Touristenprogramm besichtigte.
Verändertes Stadtbild
Unter der deutschen Besatzung änderte sich das Pariser Stadtbild erheblich. Am Eiffelturm hing ein Hakenkreuz-Banner. Es tauchten Wegweiser mit langen deutschen Wörtern auf, die kaum ein Franzose hätte aussprechen können: Heeres-Kraftfahr-Park, Luftwaffen-Lazarett, OKW-Reifenlager war dort zu lesen. In der Stadt wimmelte es von fremden Uniformen, deren Träger «grüne Bohnen» oder «graue Mäuse» genannt wurden. Es gab eigene Kinos, Cafés und etwa 60 Bordelle für die deutschen Soldaten in Paris. Zudem tickten die Uhren anders: Seit dem Einmarsch galt die deutsche Zeit, die der französischen eine Stunde voraus war.
Charles Pegulu de Rovin war damals 13 Jahre alt und tief beeindruckt, als die Deutschen kamen. «Sie waren diszipliniert und gut gebaut, es waren gutaussehende Jungs» erinnert er sich. Aber sie seien auch oft arrogant aufgetreten. «Sie ließen uns spüren, dass sie die Sieger waren. Man hatte das Gefühl, man müsse vom Gehsteig herunter, wenn sie einem entgegenkamen.»
Nichts zu essen
Im Winter 40/41 wurde es im besetzten Paris sehr ungemütlich. «Das Essen wurde knapp, wir bekamen Lebensmittelkarten», erzählt der feine alte Herr, der heute ehrenamtlich in einem Pariser Museum arbeitet und sich dort mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt. «Wir mussten Steckrüben essen», sagt er und zieht eine Grimasse. «Das soll heute wohl eine Delikatesse sein, aber ich könnte es nicht mehr herunterbringen.» Bis zum Kriegsende nahmen die Pariser im Schnitt zwischen vier und acht Kilo ab. Die Fleischration könne man in eine Metrokarte einwickeln, wurde gewitzelt. Aber nicht in eine benutzte, sonst würde sie durch das Loch fallen.
Die abendliche Sperrstunde schränkte Vergnügungen erheblich ein. In den Bistros gab es regelmäßig «alkoholfreie Tage». «Wir haben uns bei Freunden getroffen und zu Schallplatten getanzt», erinnert er sich. «Aber wir mussten aufpassen, rechtzeitig zu Hause zu sein, um nicht von den deutschen Soldaten angehalten zu werden.» Manche, denen dies passierte, versuchten dann mit ein paar in der Schule gelernten Zeilen des «Erlkönigs» von Goethe die Deutschen gnädig zu stimmen.
Besonders dramatisch war der Mangel an Kohle und Benzin. Schriftsteller wie Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir arbeiteten im Café de Flore, weil sie dort im Warmen waren. Der Autoverkehr verstummte mehr und mehr, Paris wurde eine Stadt der Radfahrer. Vélo-Taxis kamen auf, fantasievoll zusammengezimmerte Gefährte, von Radfahrern gezogen. Kurz vor Kriegsende kamen auf drei Millionen Einwohner, unter ihnen viele zurückgekehrte Flüchtlinge, zwei Millionen Fahrräder. Die meisten von ihnen waren ordentlich registriert und hatten ein Nummernschild.
Trotz allen Mangels blieb Paris eine Stadt der Kultur und der Mode. Sobald die deutschen Besatzer sich etabliert hatten, nahmen Kinos und Theater ihre Vorstellungen wieder auf. Es gab Pferderennen und Modeschauen, und die Luxus-Restaurants wie Fouquet's und La Tour d'Argent waren gut besucht - nicht zuletzt von den Besatzern, für die es eigens zweisprachige Speisekarten gab.
Durchwurschteln
«In der Besatzungszeit haben die Pariser auf das System D gesetzt», erzählt Pegulu de Rovin. Dabei steht D für «débrouiller», was soviel heißt wie «sich durchschlagen». «Als das Leder knapp wurde, gab es Schuhe mit Holzsohlen», erinnert er sich. Frauen, die keine Seidenstrümpfe bekamen, färbten sich ihre Beine mit Tee und malten sich die Naht auf die bloße Haut. «Natürlich gab es alles mögliche auf dem Schwarzmarkt zu kaufen», sagt der alte Herr.
Im Rückblick hatten die Franzosen unter deutscher Besatzung die Wahl zwischen Widerstand und Kollaboration. Im Alltag ließ sich diese Grenze nicht immer sehr scharf ziehen. Grundsätzlich mochte man die Deutschen nicht, andererseits musste man sich mit ihnen arrangieren, und schließlich gewöhnte man sich ein bisschen an sie. «Nein, die Deutschen liefen nicht mit der Waffe in der Faust durch die Straßen, (...) man hatte ihnen gesagt, sie sollten korrekt auftreten, und sie traten korrekt auf», schrieb Sartre. «Vier Jahre hindurch haben wir einfach weitergelebt, und die Deutschen lebten mitten unter uns, untergetaucht im gleichförmigen Leben der großen Stadt.»
Der Widerstand
Dennoch formierte sich der Widerstand. Erste Studentenproteste gab es bereits im November 1940, als die Deutschen die Feiern zum Gedenktag des Waffenstillstands 1918 untersagten. Im Sommer 1941 kam es zum ersten tödlichen Attentat auf einen deutschen Soldaten in Paris und bald darauf zu brutalen Vergeltungsaktionen. Mitglieder der Résistance trafen sich anfangs vor allem in der Métro, weil sie dort nicht abgehört werden konnten und das Gedränge ein schnelles Verschwinden ermöglichte.
«Ich hatte als Jugendlicher auch jüdische Freunde», erzählt Pegulu de Rovin. Einer von ihnen sei rechtzeitig in die USA geflohen. Was aus den anderen geworden sei, wisse er nicht. «Von den Deportationen haben wir erst später erfahren», sagt er. Im Frühjahr 1942 wurden erstmals französische Juden ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert, der gelbe Stern auf der Kleidung wurde Pflicht. Französische Soldaten unter deutschem Befehl trieben im Sommer fast 13.000 Juden im Sportstadium Vel d'hiv zusammen, unter ihnen etwa 4000 Kinder. Nur 25 von ihnen überlebten Auschwitz.
Parallel zum Widerstand im Lande selbst formierte sich der äußere Widerstand unter General Charles de Gaulle, der sich nach London abgesetzt hatte. Von dort aus sprach er über BBC zu den Franzosen. «Frankreich hat eine Schlacht verloren! Aber Frankreich hat nicht den Krieg verloren», hieß es in seinem berühmt gewordenen Aufruf vom 18. Juni 1940. Charles und seine Familie versammelten sich wie viele andere Pariser abends ums Radio, um die Ansprachen des Generals zu hören. «Wir waren bei meiner Schwester im Zimmer, dort stand der einzige Ofen», erinnert er sich. «Wir haben die Lage der Alliierten genau verfolgt.»
Im Frühjahr 1944 herrschte gespannte Unruhe in Paris. Charles war mittlerweile 17, und es drängte ihn, sich für sein Land zu engagieren. Er war in einer der paramilitärischen Gruppen organisiert, die sich auf die Befreiung von Paris vorbereiteten. «Ich hatte mir eine kleine Pistole besorgt und einen Arbeiteranzug gekauft», erzählt er und lacht im Rückblick über seine damalige Naivität. Zu Fuß durchquerte er die ganze Stadt bis zum Rathaus. «Die Historiker schreiben immer von der Einnahme des Hôtel de Ville, dabei sind wir da einfach so hinein gegangen und haben uns mit Sandsäcken verbarrikadiert», erinnert er sich.
Brennt Paris?
Unterdessen saß Stadtkommandant General von Choltitz im Hotel «Meurice» und versuchte, die Verteidigung der Stadt gegen die Alliierten zu organisieren. Er soll von Adolf Hitler den Befehl erhalten haben, Paris bis zum letzten Mann zu verteidigen und ein Trümmerfeld zu hinterlassen. Allerdings soll Hitler auch gesagt haben, dass man Paris nicht zu zerstören brauche, weil die neue Welthauptstadt Germania es ohnehin in den Schatten stellen werde.
Tatsache ist, dass von Choltitz die Stadt nach kurzem Widerstand aufgab und damit Zerstörungen verhinderte. Eine entsprechende Erklärung unterzeichnete er im Großen Saal in der ersten Etage des Hotels «Le Meurice». Damit endeten die vier «schwarzen Jahre», wie die deutsche Besatzungszeit in Frankreich bis heute genannt wird. Am 25. August wurde die französische Flagge auf dem Eiffelturm und wenig später auf dem Triumphbogen gehisst, zum ersten Mal seit Beginn der Besatzungszeit läuteten die Glocken der Kathedrale von Notre-Dame.
Ulrike Koltermann (dpa) - Bild: epa