Nach der Katastrophe von Enschede malte ein kleiner Junge mit Buntstiften vier Vögel. Der eine symbolisiert ihn selbst, die anderen Mutter, Vater und Bruder. Sie starben, als am 13. Mai 2000 mitten in der Stadt an der Grenze zu Deutschland eine Feuerwerksfabrik explodierte. 23 Menschen wurden getötet, fast 1000 verletzt. Ein flammendes Inferno fegte durch Enschedes Stadtviertel Roombeek, vernichtete auf 62 Hektar Fläche private Häuschen und mehrstöckige Mietshäuser, Läden, Büros und Firmen.
Phönix aus der Asche
Zehn Jahre danach wehen die Flaggen wieder auf halbmast. Das Gedenken an die Opfer in Roombeek wird vom Fernsehen live übertragen - aus einem Stadtviertel, das wie Phönix aus der Asche gestiegen ist und inzwischen Besucher aus ganz Europa anzieht. Sie kommen nicht für Gruseltouren, sondern um eine hippe Architekturmetropole zu erleben.
Die Kinderzeichnung mit den Vögeln wird neben anderen Erinnerungen an die Katastrophe im Gemeindezentrum «Huis van Verhalen» aufbewahrt. Das «Haus der Geschichten» - 2006 aus einem bunten Materialmix nach Entwürfen des Deutschen Peter Hübner errichtet - ist der Ausgangspunkt für Touren durch Roombeeks teils spektakuläre Architektur. Das Grauen von damals ist freilich immer präsent.
«Sicher wissen Sie noch genau, was Sie am 13. Mai 2000 gemacht haben», sagt Stadtführerin Titia Boitelle (51) zum Beginn des Rundgangs. Alle in unserer Gruppe signalisieren Zustimmung. «Selbstverständlich», sagt ein grauhaariger Mann. «Jeder Niederländer weiß das noch. Ich schaute gerade ein Fußballspiel, da wurde das Programm unterbrochen und wir sahen das Inferno.»
Moderne Architektur
Von der Firma S.E. Fireworks ist nur noch ein Krater übrig geblieben. Der erste explodierende Container von insgesamt 100 Tonnen Feuerwerkskörpern hatte ihn tief in den dicken Betonboden gerissen. Umgeben ist er von Bauten, die Architektur-Fans ins Schwärmen bringen. Wo es einst aussah wie nach einem Bombenangriff, wagte die Gemeinde Enschede einen städtebaulichen Neuanfang.
«Dafür mussten wir das Vertrauen der Menschen gewinnen», erinnert sich Roelof Bleker, der im Gemeinderat die Verantwortung trug. Das sei dank der Hilfe von Pi de Bruijn gelungen. Der Stararchitekt hatte auch durch seinen zweiten Preis beim Architekturwettbewerb für den Berliner Reichstag hinter dem Briten Norman Foster bereits einen ausgezeichneten Ruf. Zudem stammt er aus der Enschede umgebenden Region Twente.
De Bruijn wollte als Projektleiter den einstigen Charakter von Roombeek als lebendiges Viertel mit einer Bevölkerungsmixtur aus Arbeitern, Künstlern, Gewerbetreibenden und durchaus wohlhabenden Hausbesitzern erhalten. Doch zugleich sollte modernen europäischen Architekten ein Experimentierfeld geboten werden.
Dass die Menschen mitmachten, dass mehr als 70 Prozent trotz traumatischer Erfahrungen zurückkehrten, lag sicher mit an der staatlichen Garantie für günstige Mieten und Hauskredite. «Aber es gab auch eine große Neugierde», sagt Boitelle. «Die Bauprojekte haben uns geholfen, nach dem Grauen in die Zukunft zu blicken.»
Touristen-Magnet
2008 wurde das neue Roombeek von Königin Beatrix eingeweiht. Heute ziehen pro Jahr 200 Gruppen - von Schulklassen über Rotary-Clubs bis zu Betriebsbelegschaften - durch das Viertel. Sie bestaunen Häuser wie «De Punt» des Architekten Gooike Postma aus Hengelo. Das Backsteinhaus besteht zur Hälfte aus runden und eckigen Formen, «weil sich das Besitzerehepaar nicht auf sachlich oder romantisch einigen konnte». In der Mitte gibt es dafür eine riesige Begegnungsküche.
Die Tour bietet 45 architektonische Highlights. Dazu gehören die an Spielzeug-Bauklötzer erinnernde «Villa Zucchi» des Mailänders Cino Zucchi und die langgestreckte grüne-weiße «Villa vZvdG» des Münsteraners Peter Wilson, deren Bewohner je nach Jahreszeit und Laune die Raumfunktionen leicht ändern können. Immer wieder bilden sich Menschentrauben vor dem kühn geschwungenen «Glazen Huis» von Jan Bethem (Amsterdam). Bestaunt wird auch das von langen Balkons umschlungene Mietshaus «Eekenhof» von Claus en Kaan (Amsterdam).
Das neue Roombeek ist, so kühn und abstrakt mancher Bau auch wirken mag, von seinen Bewohnern angenommen worden. Nicht jeder findet freilich auch die Besucherströme gut. «Schluss mit den Katastrophen-Rundgängen. Nach zehn Jahren wollen wir unsere Ruhe», steht auf einem Schild im Fenster eines Hauses.
Der Ärger richte sich nicht gegen die Gruppen-Rundgänge, die das «Huis van Verhalen» organisiert, versichert eine ältere Roombeekerin. «Das Interesse finden wir gut, aber es gibt hin und wieder Touristen, die ihre Nasen rücksichtslos an unseren Fenstern platt drücken.» Bei den jeweils nur kleinen Gruppen, die Boitelle und andere geschulte Tourguides führen, kommt so etwas nicht vor. «Wir achten strikt auf Abstand, Privatsphäre und Respekt vor den Bewohnern», versichert sie.
Thomas Burmeister (dpa) - Bild: epa