Kevin fetzt von der Mama zur Tür, von der Tür zum Papa und wieder zurück. Der blonde 12-Jährige ist ruhelos, immer in Bewegung und unterbricht scheinbar ungeniert alle Gespräche. Es ist kaum möglich, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, als auf den herumtigernden Jungen.
Kevin ist Autist und entwicklungsverzögert. Sein größtes Hobby sind Verschlüsse. "Kevin hat einen Korkenfetisch", sagt seine Pflegemutter Birte Schütte und lacht. Doch um Kevin soll es in dieser Geschichte nicht gehen. Sondern um seine nicht-behinderte Schwester Jeni.
Die 14-Jährige ist ein sogenanntes Geschwisterkind, also die Schwester eines chronisch kranken oder behinderten Kindes. Rund zwei Millionen solcher Kinder unter 18 Jahren gibt es, schätzt die Stiftung Familienbande, die von einem Pharmakonzern finanziert wird. Sie unterstützt Angebote für diese Kinder, die oft die zweite Geige spielen. "Man kann sich nicht zerteilen", sagt Mutter Birte Schütte.
Um nicht immer die Nummer Zwei zu sein, geht Jeni Freitags reiten. "Da hab ich was für mich, wo ich Spaß hab", sagt sie. Ihre Eltern fahren sie dann zu einem Reit- und Therapiezentrum in Braunschweig. Das "Geschwisterkinder Netzwerk" - das an der Medizinischen Hochschule Hannover angesiedelt ist - baut hier einen speziellen Stützpunkt für solche Kinder auf.
Sie sollen hier im Mittelpunkt stehen. Es gibt geschulte Reitlehrer, die Eltern bekommen Infos zu Beratungs- und Freizeitangeboten an die Hand. "Was für andere Yoga ist, ist für mich das Pferd", sagt Jeni. Das ist pechschwarz, riesig, heißt Cinderella und folgt brav ihren Anweisungen.
Jenis Mutter kommt ins Schwärmen, wenn sie davon erzählt, wie sich ihre Tochter um ihren Bruder kümmert. Zum Beispiel, wenn die beiden Geschwister abends alleine zu Haus sind. "Dann macht sie für ihn Abendbrot und bringt ihn ins Bett."
Das größte Problem von Geschwisterkindern sei, dass sie scheinbar keine Probleme haben. "Sie funktionieren im Alltag", sagt Claudia Heins. Sie gehört zum Vorstand der Stiftung Familienbande. Diese jungen Menschen seien gezwungen, mehr das "Wir" zu sehen und weniger das "Ich". Das kann Geschwisterkinder stärken.
Allerdings könne die besondere Rolle auch widersprüchliche Gefühle hervorrufen. "Sie lieben ihren Bruder oder ihre Schwester, aber manchmal sind sie schlicht neidisch, wütend oder fühlen sich ungerecht behandelt." Diese Emotionen habe ein Kind zwar auch bei gesunden Geschwistern, sagt Heins. "Gegenüber behinderten oder chronisch kranken Geschwistern mischen sich diese Gefühle aber häufig mit einem schlechten Gewissen und der Frage: "Darf ich überhaupt wütend sein?" Dieses Gefühlschaos ist oft schwer zu verarbeiten."
Jeni gibt sich tapfer, wenn man sie nach ihrer Rolle als Geschwisterkind fragt. "Das mit dem Benachteiligt-Sein ist nicht immer so", sagt sie. Aber manchmal hätten die Eltern eben keine Zeit, weil sie sich um ihren Bruder Kevin kümmern müssen. "Es gibt Situationen, da möchte ich ihm den Kopf abreißen", sagt sie.
Weniger Aufmerksamkeit zu bekommen kann für Geschwisterkinder negative Konsequenzen haben, sagt Birgit Möller. Sie arbeitet als Psychologin am Universitätsklinikum Münster. "Besonders, wenn die Kinder mit ihren Ängsten alleine und überfordert sind." Dann kann es unter Umständen zu Verhaltensauffälligkeiten, Schlafproblemen oder Traurigkeit kommen.
Doch nicht alle Geschwisterkinder belastet ihre Situation gleich, betont Möller. Es komme darauf an, wie offen eine Familie mit dem Thema umgeht und ob genug Raum für das nicht-behinderte Kind bleibt. Auch spezielle Gruppenfreizeiten können beispielsweise helfen. "Dass die Kinder sehen, dass sie nicht alleine sind", sagt Möller. Oft gebe es Angebote für Geschwisterkinder und ihre Eltern aber nur in Ballungsgebieten. "Da gibt es noch einen Nachholbedarf."
Jeni hat ihren Freiraum immer Freitags auf dem Reiterhof. Regt es sie eigentlich manchmal auf, dass ihr Bruder oft im Mittelpunkt steht? "Ja", schießt es prompt aus ihr heraus. Um sie herum wuselt Kevin und möchte jetzt ganz dringend über den bevorstehenden Stadtlauf sprechen. Der Vater konstatiert: "Das ist Normalzustand."
Von Valentin Frimmer, dpa - Bild: Dirk Waem (belga)