Gut 20 Jahre nach der Vertauschung von zwei Babys in Frankreich sollen die betroffenen Familien insgesamt knapp zwei Millionen Euro Entschädigung erhalten. Das hat ein Gericht im südfranzösischen Grasse entschieden, wie die Anwältin der Klinik in Cannes, Sophie Chas, am Dienstag mitteilte. Die Familien hatten mehr als zwölf Millionen Euro Schadensersatz verlangt.
Die betroffenen jungen Frauen werden nach diesem Urteil je 400.000 Euro bekommen, der Rest verteilt sich auf Eltern und Geschwister. Die neugeborenen Mädchen Manon und Mathilde waren im Sommer 1994 in der Klinik in Cannes vertauscht worden.
Hier die Geschichte
Manon und Mathilde, zwei neugeborene Mädchen, verbindet zunächst nur eines - beide bekommen Tage nach ihrer Geburt Gelbsucht und werden aus Platzgründen zusammen in ein Kinderbettchen gelegt. Viele Jahre später erst wird klar, dass sie damit auch ein ganz dramatisches Schicksal teilen: Denn nach ihrer UV-Bestrahlung vertauscht eine Angestellte einer Geburtsstation in Cannes die beiden Mädchen. Als dieses endlich aufgeklärt ist, klagen die aufgebrachten Eltern und verlangen über zwölf Millionen Euro Schadensersatz. Ob das gerechtfertigt ist, entscheidet am Dienstag ein Gericht in Grasse.
Der Fall ist spektakulär und klingt nach einem guten Drehbuchstoff. Den Film über vertauschte Babys gibt es aber bereits. "Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss", so heißt das Werk von Étienne Chatiliez von 1988, der eine 50 Jahre zurückliegende Vertauschung thematisiert. Die französische Justiz hatte nur selten solche Fälle zu richten. Das Landgericht in Grasse nahe der Côte d'Azur kann also nur auf wenig Erfahrung zurückgreifen. Wie wird ihr Urteil nach der Verhandlung hinter verschlossenen Türen ausfallen?
"Wenn es uns da passiert ist, dann kann es auch anderen passieren", empörte sich Sophie Serrano, eine der beiden Mütter. Sie hat Manon aufgezogen, während ihre biologische Tochter Mathilde 30 Kilometer entfernt aufwuchs. Dabei hatten beide junge Mütter in der Klinik Zweifel angemeldet, als ihnen ihre angeblichen Kinder ausgehändigt wurden. Denn ein Elternpaar war hellhäutig, das andere stammte von der französischen Insel La Réunion im Indischen Ozean. "Ich habe es am Ende geglaubt", jung und erschöpft von der Geburt wie sie war, so erklärte Serrano, warum sie das Kind akzeptierte. Auch die andere Frau fand sich damit ab. Wie aber ist die Vertauschung aufgeflogen?
Dem Ehemann von Sophie Serrano war es nach zehn Jahren zu bunt geworden: Einem süffisanten Spott ausgesetzt, weil seine Tochter doch einen sehr anderen Teint hatte als er, der angebliche Vater, ließ er einen DNA-Test machen. Dieser deckt auf, dass beide nicht die Eltern sind. Ein Schock. Nachforschungen enthüllen die Vertauschung, die zu einer dicken Gerichtsakte wird, denn die Klinik will freiwillig keine Entschädigung zahlen. "Die Vertauschung geht auf eine Angestellte der Klinik zurück, die die Verhaltensregeln nicht eingehalten hat, weil sie an schwerer Depression litt und an chronischem Alkoholismus", so argumentiert eine Anwältin der Klinik im Fernsehsender BFMTV. Und sie wirft die Frage auf, warum die jungen Mütter das damals so hinnahmen.
Was ist nun mit den vertauschten Kindern? Die beiden Elternpaare - das zweite will anonym bleiben - leben in der Umgebung von Grasse. Sie haben sich und ihre biologischen Töchter getroffen, ohne dass ein "Rücktausch" vereinbart worden ist. Die jungen Frauen ihrerseits wollten auch nicht zu ihren eigentlichen Eltern zurück: Im Juli feiern sie 21. Geburtstag und ziehen offenbar den Blick nach vorn vor. "Nach dem Prozess werde ich besser vorankommen", sagt die eine. Die Wiederbegegnung mit der leiblichen Mutter sei sehr verwirrend und seltsam gewesen: "Man trifft auf eine Frau, die einem unbekannt ist."
Von Hanns-Jochen Kaffsack, dpa/sh