Für einen 105-Jährigen ist eine Reise von Maidenhead bei London nach Prag keine Kleinigkeit mehr. Doch Sir Nicholas Winton hat in seinem Leben schon ganz anderes geleistet. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs organisierte der Brite Züge für jüdische Kinder aus Prag nach Großbritannien. Mehr als 600 von ihnen rettete er damit vor dem Holocaust.
Dafür zeichnete ihn der tschechische Präsident Milos Zeman am Dienstag mit der höchsten Auszeichnung seines Landes aus - dem Orden des Weißen Löwen. "Es gibt ein tschechisches Sprichwort: Besser jetzt, als nie", sagte Zeman und entschuldigte sich für die späte Ehrung.
Bei der bewegenden Zeremonie im Thronsaal der Prager Burg waren auch sieben der damaligen Kinder dabei. "Ich bin froh, dass so viele von ihnen heute unter uns sind", sagte ein sichtlich gerührter Winton. Schüler hielten Kinderfotos der Geretteten hoch.
Winton dankte allen, die damals bei der Rettungsaktion geholfen hatten. Das Problem sei gewesen, dass nur wenige Länder, darunter Großbritannien, unbegleitete Kinder aufnehmen wollten. "Viele Politiker begriffen nicht, was auf dem Kontinent geschah", erinnerte Winton an den Vorabend des Zweiten Weltkriegs.
Hilferuf aus Prag im Dezember 1938
Winton war im Dezember 1938 auf dem Weg in den Skiurlaub, als ihn ein Hilferuf aus Prag erreichte. Spontan entschloss er sich, zu helfen. Er trieb die Garantiesumme von 50 Pfund pro Kind auf - heute wären das rund 3500 Euro. Der Börsenmakler suchte unermüdlich Pflegefamilien in Großbritannien. "Wenn es nicht unmöglich ist, dann gibt es einen Weg", wurde zu seinem Lebensmotto.
Acht Züge mit 669 tschechischen Kindern erreichten sicher London. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs duldete das Nazi-Regime die Transporte. Doch der letzte und größte Zug durfte Prag am 1. September 1939 nicht mehr verlassen. Heute geht man davon aus, dass die meisten der 250 Kinder an Bord im Konzentrationslager starben.
Winton machte jahrzehntelang kein Aufhebens um die Rettungsaktion. Erst im Jahr 1988 brachte eine Fernsehsendung ehemalige Kinder aus den Zügen mit dem stets bescheidenen Winton zusammen. Es war ein bewegendes Wiedersehen. Winton, der sich selbst als "mehr tatterig als alt" beschreibt, hält bis heute Kontakt zu vielen von ihnen.
In Tschechien gilt der Brite als Held, als "britischer Oskar Schindler" - der Industrielle hatte tausend Juden vor dem Holocaust gerettet. Präsident Zeman lobte Wintons Lebensgeschichte als Beispiel für Menschlichkeit und persönlichen Mut. Als ein "Zeichen der Demut" setzte sich das Staatsoberhaupt spontan über alle protokollarischen Regeln hinweg: Zum Abschluss der feierlichen Zeremonie schob er Winton im Rollstuhl selbst aus dem Saal.
Auf die anstrengende Reise an den Schicksalsort Prag hatte man den 105-Jährigen mit einem kleinen Versprechen locken müssen. Aus diplomatischen Kreisen hieß es, der begeisterte Flieger habe ausnahmsweise das Cockpit des tschechischen Regierungsjets besuchen dürfen. Zum Abschluss seines Kurzbesuchs wollte Winton dann noch einmal das Hotel Europa, seine Unterkunft vor 75 Jahren, sehen - und ein böhmisches Bier trinken, wie sein Gastgeber Zeman verriet.
Michael Heitmann, dpa - Bild: Michal Cizek (afp)