In der Großen Synagoge in Brüssel ist am Donnerstagabend der Reichskristallnacht gedacht worden. Zum 75. Mal jährte sich die Nacht der Übergriffe auf jüdische Einrichtungen und Wohnungen im nationalsozialistischen Deutschland. Dabei kamen etwa hundert Menschen ums Leben, mehr als 30.000 Juden wurden ab diesem Tag deportiert.
Fredy Goldberg hat seine Kindheitserinnerungen an die Nacht zum 9. November 1938 mitgeteilt: "Ich erinnere mich an unsere Nachbarn, von denen ich dachte, dass sie unsere Freunden seien. Sie schmissen Steine. Ich hörte sie sagen, dass wegen uns dreckigen Juden Glas auf dem Boden liegt." Er befand sich damals als achtjähriger in Berlin.
Zu der Gedenkfeier in Brüssel waren 300 Gäste gekommen, darunter Kammerpräsident André Flahaut, Innenministerin Joëlle Milquet und EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy. Der Große Rabbi von Brüssel, Albert Guigui, hat ein Gebet für die Europäische Union und ihre Leiter gesprochen.
Vor 75 Jahren: Als in Deutschland die Synagogen brannten
Es war die Nacht, in der die Synagogen brannten. Im ganzen Deutschen Reich zogen rund um den 9. November 1938 brandschatzende, prügelnde Schlägertrupps umher. Das Ziel der Übergriffe: die Juden. Von diesen Pogromen vor 75 Jahren war der Weg zum Holocaust nicht weit.
Am Anfang standen die Schüsse auf den deutschen Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath in Paris, abgefeuert am 7. November von dem 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan. Schon die Nachricht des Attentats löste erste Übergriffe aus. Als vom Rath dann zwei Tage später starb, waren die Folgen für die Juden verheerend.
An diesem 9. November feierten die Spitzen der NSDAP im Alten Rathaussaal in München, auch mit Reichskanzler Adolf Hitler und Propagandaminister Joseph Goebbels. Sie gedachten des Hitlerputsches 15 Jahre zuvor. Goebbels verstand sofort, wie er das Attentat ausnutzen konnte. Zwar rief er nicht direkt zu Übergriffen auf, doch den anwesenden Führern von Partei und SA war klar, was er mit seiner antisemitischen Hetzrede bewirken wollte.
"Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen", notierte Goebbels später in seinem Tagebuch und schilderte seine Anweisungen an die Polizei und die Parteiführer, die mitfeierten. "Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telephone. Nun wird das Volk handeln." Die Devise: "Mal den Dingen ihren Lauf lassen." Also kein Eingreifen von Polizei und Feuerwehr. SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich schob später ein Telegram hinterher mit der Bitte, deutsches Leben und Eigentum zu verschonen. "zB. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist", heißt es darin.
Der Zorn des Volkes über den feigen Mord habe sich hier entladen, propagierten die Nazis. Doch Historiker sprechen von organisierten Angriffen durch Schlägertrupps der Partei und der SA - ohne Uniform, um als normale Bürger zu gelten. Überall im Deutschen Reich brennen Synagogen, werden Schaufenster zertrümmert, Geschäfte geplündert. Tausende Juden werden gedemütigt, verhaftet und sogar ermordet. Viele werden in den Tod getrieben, rund 30.000 werden anschließend in Konzentrationslager verschleppt.
"Das hat die Judenverfolgung massiv beschleunigt", sagt der Leiter des Zentrums für Holocauststudien in München, Frank Bajohr. Die Weichen für Vernichtung und systematische Arisierung wurden seit 1933 gestellt durch Gesetze ebenso wie durch die Propaganda, die Juden als böse und minderwertig brandmarkte. Nach Ansicht Bajohrs waren Pogrome schon vor dem 9. November 1938 weit verbreitet. So hatte es etwa in Wien im Frühjahr zuvor Übergriffe mit erschreckenden Ausmaßen gegeben.
"Es hätte nicht ernsthaft des Todes von Herrn vom Rath bedurft, um die Pogrome in Gang zu setzen", meint der Historiker. "Die Nationalsozialisten befinden sich in einer Position, in der sie glauben, sie können es sich leisten", stellt Bajohr in der Rückschau fest. Zwar habe es weltweit viel Mitleid mit den Juden gegeben. Aber nur wenige Länder seien bereit gewesen, jüdische Auswanderer in größerer Zahl aufzunehmen. "Das wird von den Nationalsozialisten registriert und höhnisch kommentiert", berichtet Bajohr.
Hitler auf dem Höhepunkt seines Ruhms - so sieht es auch Oliver Hochkeppel vom künftigen NS-Dokumentationszentrum in München. "Es war zu einer Zeit, in der die Zustimmung zum Regime so groß war wie vorher und nachher nie wieder", erläutert der Historiker. "Hitler ist von außenpolitischem Erfolg zu Erfolg geeilt, war auf dem Höhepunkt seines charismatischen Wegs."
Noch sind viele Abläufe an diesem 9. November unklar. Der Journalist und Buchautor Armin Fuhrer glaubt, dass der Gesandte gar nicht so schwer verletzt war, dass er geopfert wurde, um einen Märtyrer zu haben. "Der Verdacht liegt nahe, dass Hitler seinem Leibarzt den Befehl gab, vom Rath sterben zu lassen und nach außen hin so zu tun, als habe man ihn nicht retten können", schreibt Fuhrer in seiner kürzlich erschienenen Biografie "Herschel".
"1938 brodelte es in der NSDAP, weil viele einfache Parteimitglieder und SA-Leute endlich gegen die Juden losschlagen wollten", lautet seine Begründung. "Goebbels und Hitler wussten, dass sie auf den Unmut reagieren mussten, da war dieses Attentat ein Geschenk des Himmels."
Eine These, mit der sich viele Historiker allerdings nicht anfreunden können, weil sie ihnen zu ungesichert erscheint. Wie es wirklich war, spielt nach Ansicht vieler auch kaum eine Rolle. Die Pogrome wären ohnehin gekommen - früher oder später, meinen sie. Vielleicht, meint Hochkeppel, wäre es dann nicht der 9. November gewesen, sondern ein anderer Tag.
Schon lange war das Leben der Juden gekennzeichnet von staatlicher Willkür und beständiger Angst, wie ein Tagebucheintrag von Victor Klemperer etwa vom 2. Oktober 1938 zeigt: "Ich glaubte: Heute Abend der Krieg. Vielleicht unser Tod in einem Pogrom."
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