Vor 30 Jahren: Lech Walesa, der schnauzbärtige Elektriker mit der Muttergottes aus Tschenstochau am Revers, unterzeichnet mit einem überdimensionalen Kugelschreiber ein Abkommen mit der kommunistischen Staatsmacht. «Wir haben alles erreicht, was sich in dieser Situation erreichen ließ», sagt der damals 37-Jährige selbstbewusst nach der Einigung auf der Lenin-Werft in Danzig am 31. August 1980.
Das entscheidende Zugeständnis, das Walesa und seine Kampfgefährten der Parteiführung nach mehr als zwei Wochen Streik abgerungen hatten, war das Recht auf eine unabhängige Arbeitervertretung. Erstmals wurde damit im damaligen Ostblock der Alleinvertretungsanspruch der herrschenden Kommunisten infrage gestellt, ihr Machtmonopol gebrochen.
In die Gewerkschaft «Solidarnosc» («Solidarität»), die kurz darauf gegründet wurde, traten innerhalb von wenigen Monaten zehn Millionen Menschen ein - ein Drittel der erwachsenen Bürger Polens.
«Es gibt keine Sieger und keine Besiegten. Gewonnen haben beide Seiten», tröstete der Chefunterhändler der Regierungsseite, Vize-Premier Mieczyslaw Jagielski, seine Parteigenossen damals. Diese Worte sollten aber nur eine für die Machthaber bittere Wahrheit kaschieren: Der Zerfall des Sowjetimperiums hatte begonnen. Neun Jahre später fiel die Berliner Mauer, Mittel- und Osteuropa wurden frei.
Walesa selbst hätte beinahe den Streikbeginn verpasst. Bevor er am 14. August eine Straßenbahn bestieg, um in die Werft zu fahren, musste er sich zunächst um seine Familie kümmern. Seine Frau Danuta war nach der Geburt ihres sechsten Kindes, der Tochter Anna, noch sehr geschwächt, schrieb er in seiner Autobiografie. Erst am Vormittag - Stunden später als verabredet - sprang der Arbeiterführer über die Werksmauer und schloss sich seinen Kollegen an.
Es war höchste Zeit, denn der Streik, den eine Gruppe junger Arbeiter zu Beginn der Frühschicht vom Zaun gebrochen hatte, drohte zu scheitern. Der Direktor der Werft, Klemens Gniech, versuchte die Streikenden einzuschüchtern. Einige lenkten ein und folgten seinem Aufruf, an die Arbeit zurückzukehren. Doch nun übernahm der plötzlich aufgetauchte Walesa mit entschlossener Stimme das Kommando. «Hurra», schallte es aus tausenden Kehlen. Vom Nachgeben war keine Rede mehr.
18 Tage lang erlebten die Streikenden ein Wechselbad der Gefühle zwischen Hoffen und Bangen - sie lebten in Angst vor einem Eingreifen der Sicherheitskräfte. Zehn Jahre zuvor waren 1970 die Arbeiterproteste an der Ostseeküste blutig niedergeschlagen worden. Die anfänglichen Forderungen klangen bescheiden: Wiedereinstellung der entlassenen Kranführerin Anna Walentynowicz, eine Lohnerhöhung sowie die Errichtung eines Denkmals für die erschossenen Arbeiter.
Der Funke des Protestes sprang bald nach Beginn des Streiks von der Danziger Werft auf die anderen Städte an der Ostseeküste über, verbreitete sich schließlich im ganzen Land. Ende August streikten bereits eine Million Menschen in mehreren hundert Betrieben für Brot und Freiheit. Die Werft in Danzig wurde zur Machtzentrale landesweiter Proteste.
Mit ihrem Fachwissen und politischer Erfahrung unterstützten katholische und linke Intellektuelle, unter anderem Tadeusz Mazowiecki und Bronislaw Geremek, die Streikenden. Als ihre moralische Stütze galt der polnische Papst in Rom, Johannes Paul II.
Die sozialistischen «Bruderstaaten» reagierten auf die Ereignisse im Nachbarland mit Entsetzen. Das SED-Organ «Neues Deutschland» und die sowjetische «Prawda» richteten scharfe Angriffe gegen die «antisozialistischen Elemente» und warnten vor der Konterrevolution. Die DDR-Führung machte die Grenze zu Polen aus Angst vor dem polnischen Rebellionsbazillus dicht.
Regimekritiker in Osteuropa blickten dagegen mit großer Hoffnung auf Danzig. Die «Solidarnosc»-Gründung sei für ihn und seine Freunde ein «Schlüsselerlebnis» gewesen, sagt der ehemalige ostdeutsche Dissident Wolfgang Templin. Er habe sofort gewusst, dass «Solidarnosc» den politischen Durchbruch bedeutete, erinnert sich Templin.
Die Hoffnung auf den «Sozialismus mit menschlichem Antlitz», die nach dem gewonnenen Streik viele Polen teilten, endete abrupt im Dezember 1981 mit der Verhängung des Kriegsrechts. Der polnische Partei- und Staatschef General Wojciech Jaruzelski schickte gegen die Arbeiter Soldaten und Panzer, um «Solidarnosc» zu zerschlagen. Tausende Gewerkschafter, darunter Walesa, wurden interniert, Dutzende starben bei Zusammenstößen mit der Polizei.
Erst am Ende der 80er Jahre bot Jaruzelski der demokratischen Opposition, nicht zuletzt unter dem Druck der desolaten Wirtschaftslage seines Landes, den Dialog an. Auch die Weltlage änderte sich: Im Kreml hatten nicht mehr die Falken das Sagen, es regierte der Reformer Michail Gorbatschow.
Einmal mehr wurde Polen zum Vorreiter des Umbruchs: Im Frühjahr 1989 einigten sich die Regimekritiker und die Kommunisten am Runden Tisch auf einen Kompromiss, der eine Beteiligung der «Solidarnosc» an der Macht ermöglichte. «Solidarnosc» habe «dem russischen Bär die Zähne gezogen» und den Grundstein für das Ende des Kalten Krieges gelegt, kommentierte Walesa mit Stolz.
Drei Jahrzehnte nach der «Solidarnosc»-Geburt sind die Helden von damals müde und frustriert - eine echte Feierstimmung will nicht so recht aufkommen. Er sei todmüde und wolle endlich in Ruhe gelassen werden, schrieb Walesa auf seiner Internetseite. Seine Abwesenheit bei den Jubiläumsfeiern begründete der 66-Jährige, der 1983 für seinen Kampf gegen die Diktatur den Friedensnobelpreis erhalten hatte, mit der Einmischung der Gewerkschaftsführer in die politischen Machtkämpfe.
Jacek Lepiarz (dpa) - Bild: epa