Jeder Schüler hat es im Englischunterricht gelernt und doch nie glauben können. Bis er es dann auf Klassenfahrt mit eigenen Augen sah: Engländer bilden an Bushaltestellen und auch sonst bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine geordnete Schlange.
Die Anthropologin Kate Fox hat das Schlangestehen in vielen Feldversuchen unter die Lupe genommen. Ihr Fazit: Es ist ein Mikrokosmos der englischen Gesellschaft. «Voller Intrige und Täuschung, moralischem Zwiespalt, Ehrgefühl und Selbstlosigkeit, wechselnden Allianzen, Beschämung und Gesichtswahrung, Wut und Versöhnung.»
Shocking!
Engländer, die zum ersten Mal ins Ausland fahren, sind oft fassungslos, wie ruppig es dort zugeht. Geoff Sammon, der als Englisch-Dozent an der Universität Bonn arbeitet, kann sich noch gut erinnern, wie «schockiert» er anfangs über das Gedränge an der Bushaltestelle war. «Es ist schon ein Kulturunterschied», sagt er. «Mit der Zeit hab ich mich dann angepasst. Ich benutze jetzt auch meine Ellbogen. Das ist natürlich etwas schizophren, denn wenn ich in England bin, mache ich sofort wieder queuing.»
Auch Lizzie Gilbert, die am englischen Seminar der Universität Köln lehrt, hat nach wie vor Probleme mit dem deutschen Hang zum Nahkampf. «Ich habe das Schlangestehen intus», sagt sie, «Aber in Deutschland gilt eindeutig das Gesetz des Stärkeren.» Alison Nagel, Englisch-Lektorin an der Universität Freiburg, kann da nur zustimmen: «Schrecklich! In Supermärkten zum Beispiel ist es doch so: Wenn eine neue Kassiererin dazukommt, stürzen alle Leute dahin, egal wie lang man schon gewartet hat.»
Ganz anders auf der Insel - dort steht man Schlange, und zwar gekonnt! Es ist eine hohe Kunst, die von Ausländern erst mühsam erlernt werden muss. Hier eine Kurzanleitung ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Abstand zum Vordermann
Der Abstand zum Vordermann muss sehr genau eingeschätzt werden. Rückt man zu dicht auf, könnte er sich gestört fühlen und umdrehen - ein schwerer Fauxpas. Lässt man zu viel Platz, wird der als nächstes Dazukommende unweigerlich fragen: «Are you in the queue?» (Stehen Sie in der Schlange?). Das hört sich zwar höflich an, heißt aber nichts anderes als: «Wissen Sie Trottel noch nicht mal, wie man sich anstellt?» Als Faustregel für den richtigen Abstand empfahl der «Guardian» einmal, man solle so viel Platz lassen «wie beim Tanzen mit Großtante Hildegard».
England-spezifisch ist die «Ein-Mann-Schlange». Ein Engländer, der eine Bushaltestelle erreicht, nimmt dort sofort die Schlangenkopf-Position ein. Sollte im weiteren Verlauf jemand dazukommen, der sich nicht direkt hinter ihn stellt, würde dieser freundlich, aber deutlich belehrt: «This is a queue.»
Die neue Kasse im Supermarkt
Wenn im englischen Supermarkt eine weitere Kasse geöffnet wird, ist es undenkbar, dass Leute aus den benachbarten Warteschlangen losrennen und dort willkürlich eine neue Reihe bilden. Vielmehr müssen sie sich an der neu geöffneten Kasse entsprechend ihrer Position in der vorherigen Schlange anstellen - eine hoch komplizierte Angelegenheit, die nur unter Bekundung zahlreicher Höflichkeitsfloskeln wie «Bitte nach Ihnen» oder «Ich glaube, Sie waren vor mir» vonstattengehen kann.
Eine gesonderte Situation ergibt sich, wenn jemand kurz ausschert, um noch etwas zu holen. Auch wenn dies nur eine Flasche Wasser aus dem Kühlregal in wenigen Metern Entfernung ist, kann er seinen Platz in der Schlange nicht ohne weiteres wieder beanspruchen. Es wird von ihm erwartet, dass er einen kurzen Moment innehält, um damit zu signalisieren, dass er auf den guten Willen der Mitwartenden angewiesen ist.
Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass sein bisheriger Hintermann dann kaum merklich zurücktritt und damit andeutet, dass der Ausscherer seine alte Position wieder einnehmen kann. All dies geschieht ohne jede verbale Kommunikation und ohne Blickkontakt. Beides würde als aufdringlich empfunden.
Ein Schalter wird geschlossen
Ein weiterer Sonderfall: In einer Bank bedienen zwei Kundenberater, von denen einer weggeht. Zwei Warteschlangen bleiben zurück, und als der einzig verbliebene Berater frei wird, ist nicht klar, wer nun zu ihm vorrücken darf. In einer solch prekären Situation erleben wir die englische Höflichkeit in ihrer höchsten Vollendung: Einladende Geste des einen Wartenden an den anderen, doch bitte vorzutreten. Abwiegelnde Geste des anderen. «You go...» - «No, please...» Es kann gut und gern 30 Sekunden dauern, bis sich diese Pattstellung auflöst und einer schließlich unter Dankesbezeugungen vorgeht.
Geächtet!
Vordrängeln ist in England weitgehend unbekannt, denn es ist gesellschaftlich geächtet. Wenn es doch einmal vorkommt, wird der Vordrängler aber so gut wie nie an seinem Verhalten gehindert, was auf den ersten Blick paradox erscheinen mag. Bei uns würde man rufen: «He, hinten anstellen!» In England tut man das nicht, denn nichts ist so peinlich wie einem anderen öffentlich eine Szene zu machen.
Die Wartenden beschränken sich vielmehr auf ein vor sich hin gemurmeltes «Tstststs» oder «Hat man so was schon gesehen?» Der Regelbrecher wird dabei jedoch nicht direkt angesprochen und auch nicht angeschaut. Kate Fox analysiert dies in ihrem Buch «Watching the English - The Hidden Rules of English Behaviour» wie folgt: «Es ist in England vermutlich leichter als irgendwo sonst auf der Welt, sich in der Reihe vorzudrängeln, doch nur, wenn man die Demütigung hochgezogener Augenbrauen, abfälligen Hüstelns und missbilligenden Murmelns ertragen kann. Mit anderen Worten: wenn man kein Engländer ist.»
Das Räuspern und Zischen reicht so manches Mal aus, um den Vordrängler in die Reihe zurückzuzwingen. In einem solchen Fall wird er Entschuldigungen von sich geben wie: «Oh sorry, waren Sie vor mir?» Anschließend ist es der Räusperer oder Zischer, der nun peinlich berührt ist und keineswegs irgendein Gefühl von Genugtuung oder auch nur Zufriedenheit zum Ausdruck bringen darf.
Fair Play, der Wunsch nach Privacy und die historischen Wurzeln
Schon viele Experten haben sich Gedanken darüber gemacht, woher diese spezifische Form des Schlangestehens eigentlich kommt. Gewiss hat es etwas mit dem englischen Verständnis von Fair Play zu tun, dass derjenige, der am längsten gewartet hat, auch als erster drankommt. «Es ist ein fester Bestandteil der englischen Psyche», erläutert die Engländerin Prof. Susan Bollinger von der Universität München. «Absolut eine Erziehungssache. Wir kämen gar nicht auf die Idee, es anders zu machen.»
Aber es spielt noch etwas anderes mit. Engländer legen großen Wert auf ihre Privacy. «Und feste Regeln helfen dabei, dass man nicht kommunizieren muss», erklärt Lizzie Gilbert. «Wenn jeder weiß, wie er sich zu benehmen hat, dann kann man sich das sparen.» Für diese Erklärung spricht auch, dass man in der englischen Schlange meistens schweigt. Noch nie hat ein Liebespaar behauptet, sich in der Schlange kennengelernt zu haben.
Die im Mai abgewählte Labour-Regierung wollte das Schlangestehen sogar zum Bestandteil von Einbürgerungstests für Migranten machen. Englische Regierungen haben das Schlangestehen seit jeher gefördert, vor allem in der Nachkriegszeit. Damals waren alle möglichen Lebensmittel rationiert, und um Krawallen vorzubeugen, verkaufte die Labour-Regierung von Premierminister Clement Attlee das Schlangestehen sehr geschickt als englische Nationaltugend. Nach der Devise: Wir stehen gern an - wir sind Engländer!
«Schlangestehen hat immer mit einem Gut zu tun, das knapp ist», sagt Prof. Barbara Schaff von der Universität Göttingen. Der Begriff «Queuing» stand nach ihren Nachforschungen zum ersten Mal 1837 im Wörterbuch - «und das war kein Zufall, denn ungefähr zu dieser Zeit taucht auch der Begriff Bürokratie erstmals auf.» In Ämtern steht man besonders oft und besonders lang in der Schlange.
Noch etwas für die Statistiker
Übrigens: Alle Menschen, ob in England oder anderswo, sind davon überzeugt, dass sie im Supermarkt oder im Postamt grundsätzlich die falsche Schlange erwischen. Nämlich die, in der es länger dauert. Dies ist allerdings nichts weiter als eine Täuschung. Da man meist noch die Schlange rechts und links von sich im Auge behält, stehen die Chancen nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit 2 zu 1, dass es in einer dieser beiden Schlangen schneller geht als in der eigenen.10
Christoph Driessen (dpa) - Bild: epa