Die Fußball-WM gleicht nach Meinung des Sportsoziologen Robert Gugutzer einem religiösen Event. «Sie hat dieselben Funktionen wie Religion. Sie wird in Gemeinschaft gelebt, ist eine Ausnahme vom Alltag, arbeitet mit Symbolen und Ritualen», sagte der Professor an der Universität in Frankfurt am Mittwoch. Dass die Massenveranstaltungen so beliebt seien, zeige ein weiterhin großes Bedürfnis nach Gemeinschaft und kollektiver Zugehörigkeit - allen Tendenzen zur Individualisierung zum Trotz.
Die Bedeutung von traditionellen Gemeinschaften wie Kirchen und auch Familien schwindet, wie der Experte sagte. An ihre Stelle rückten neue Formen. So sorge jetzt die Fußball-Weltmeisterschaft für ein Wir-Gefühl bei vielen Menschen. «Public Viewing ist eine harmlose Möglichkeit, die Identifikation mit einem Kollektiv, etwa der eigenen Nation, lustvoll, kreativ und mit Spaß zum Ausdruck zu bringen.»
Dass in Zeiten von Globalisierung die Menschen sich mit der jeweiligen Mannschaft verbunden fühlen und als Patrioten mitfiebern, findet der Wissenschaftler nicht verwunderlich. «Gerade deshalb haben Menschen das Bedürfnis, das Eigene mit der dazu gehörigen Wertegemeinschaft zu betonen und zu schützen.»
Für Gugutzer veranschaulicht eine seit der WM 2006 in Deutschland weit verbreitete Feierform diesen Trend besonders deutlich: «Public Viewing ist eine außeralltägliche, zeitlich und räumlich begrenzte Sonderwelt mit quasi-religiösem Charakter.» Gemeinsam werde zum Versammlungsort prozessiert, es würden Gesänge angestimmt und auf ein ekstatisches Aufgehen in der Masse gehofft.
Dabei stehe nicht der einzelne Fußballer oder der Fußballsport im Fokus. «Vielmehr ist es ein individualisierter Gott, das eigene Ich, das hier massenhaft zelebriert wird.» Deshalb feierten auch Menschen mit, die von Fußball nichts verstünden.
Marco Krefting (dpa) - Bild: epa